Krimis

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nemesis

Krimis

Beitrag von nemesis »

Dorothea S. Baltenstein – Vier Tage währt die Nacht
Rowohlt,2002
ISBN 3-499-23497-1

Taschenbuch, 638 Seiten

Ein schottisches Schloß mitten im Winter, Morde nach dem Prinzip von Agatha Christies „Zehn kleine Negerlein“ (das heute politisch korrekt einen anderen Titel trägt) – das alles klingt nach einer klassischen Kriminalgeschichte. Aber was für einer...

Sir Mortimer Pope hat im Jahre 1817 zehn bedeutende Autoren zu einem literarischen Symposium auf sein Schloß in Schottland eingeladen, man will über die Werke der anderen diskutieren und sich gegenseitig inspirieren. Doch bereits in der ersten Nacht kommt es zu einem schrecklichen Todesfall, als einer der Gäste auf der einstürzenden Zugbrücke ums Leben kommt. Zugleich sehen alle Anwesenden mit Schrecken, daß es in dem nahe gelegenen alten Spukhaus der Legende gemäß in dieser Nacht brennt. Schockiert machen sich Jonathan Lloyd und der Amerikaner Goldsmith daran, die Rätsel zu lösen. Und doch bleibt es nicht bei dem ersten Toten, die Todesarten werden immer bizarrer. Unter den Literaten brechen Konflikte auf, jeder beginnt, die anderen zu verdächtigen. Und dann ist da noch die bezaubernde Nichte von Sir Mortimer, Nightingale Dubois, zu der Jonathan alsbald in Liebe entflammt...


Zunächst vorweg ein paar Worte zu der Autorin: Eine Dorothea S. Baltenstein hat es tatsächlich nie gegeben, der Name ist ein Pseudonym, das sich die Autoren des Romans zugelegt haben. Tatsächlich waren diese nämlich vier Berliner Schülerinnen und ihr Literaturlehrer, die im Rahmen eines Projektes (Projekt Pegasus) den Roman verfaßt hatten. Das Pseudonym wurde nötig, da bis dato alle Verlage eine Veröffentlichung des Romans mit der Aussage abgelehnt hatten, wenn Schüler(innen) daran beteiligt wären, könne diese ja gar kein vernünftiges Buch sein. Eine absolut dumme und überhebliche Haltung, denn seit wann ist ist das Alter eines oder mehrerer Autoren für das Niveau eines Romanes von Bedeutung? Und gerade bei dem vorliegenden Roman ist diese Einstellung auch kaum verständlich, wenn man sich die Qualität des Buches vergegenwärtigt.

Dabei scheint die Handlung in ihren Grundzügen zunächst recht konventionell zu sein, das Motiv aus Agatha Christies Roman „Zehn kleine Negerlein“ hatte ich ja bereits erwähnt. Wie aber dieses Gerüst ausgestaltet wird, zeugt von hoher literarischer Kunst. Geschickt werden falsche Fährten gelegt, die den Leser in die Irre führen. Jedes Detail, das später von Bedeutung wird, ist bereits in den ersten Kapiteln angelegt und erscheint im Verlaufe des Romans plötzlich in einem völlig neuen Licht. Die Einleitung ist aus diesem Grunde auch nicht zu lang, wie mancherorts kritisiert wurde, vielmehr gibt sie eben genau die später relevanten Hinweise und schafft die für den ganzen Roman so wichtige Atmosphäre. Der Spannungsbogen steigt dabei sanft an, der schlußendliche Höhepunkt der Handlung fällt etwas anders aus, als man dies von einem Krimi erwarten würde, ohne jedoch den Leser zu enttäuschen. Und auch wenn man nach etwa der Hälfte des Buches zumindest ahnt, wer der Täter sein muß, so hält sich die Spannung doch weiter, denn die Frage nach dem Motiv wird bis kurz vor dem Ende des Buches nicht geklärt. Diese Auflösung ist dann dem gesamten Bild des Romanes völlig angemessen, wirkt nicht künstlich aufgezwungen sondern schlicht völlig passend und sehr poetisch. Daß es schließlich zu keinem klassischen „glücklichen Ende“ im Sinne Hollywoods kommt, sondern eine gewisse Traurigkeit verbleibt, trifft genau den Ton des Romans und bildet dessen würdigen Abschuß.

Überhaupt ist das ganze Buch voller Poesie. Das betrifft zunächst die Sprache. Altertümlich in Wortwahl und Satzbau paßt sie sich wunderbar in das gesamte Bild des Romans ein. Gleichzeitig gelingt es ihr aber auch, den Leser, gerade so wie es die Literaten in dem Buch beschreiben, vollständig in das Buch einzubinden. Das kann die emotionale Verwirrung sein, in der sich Jonathan und Nightingale befinden, die man selten so treffend und eben schlicht poetisch beschrieben findet, oder auch die plötzliche Panik Jonathans, als er erkennen muß, daß seine Angebetete das nächste Opfer sein wird (ob er sie retten kann, verrate ich hier nicht). Gerade an dieser Stelle scheinen die Worte genauso über das Papier zu rasen, wie die Protagonisten durch das Schloß auf der verzweifelten Suche nach Nightingale. Das ganze Buch strahlt dabei eine wunderbare Wärme aus, ganz so, wie es den Figuren im Schloß zunächst geht. Und schließlich sind da noch die poetischen Formulierungen, denen der Leser auf jeder Seite des Buches begegnet. Sie rühren eine Seite der Seele an, die sich mit Worten kaum beschreiben läßt, erinnern tatsächlich stark an Lyrik und vollenden das sprachliche Gesamtkunstwerk.

Doch den Autorinnen ist es auf bewundernswerte Weise gelungen, nicht nur zu jeder Zeit, die Sprache des beginnenden 19. Jahrhunderts zu treffen, sondern dem Roman auch den Geist der damaligen Zeit einzuhauchen. Die gesamte Atmosphäre ist absolut stimmig, nichts stört oder wirkt fehl am Platze (die kleine historische Ungenauigkeit, daß alle anwesenden Personen von „Nessie“ wissen, obwohl diese erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts bekannt wurde, ist nicht weiter von Bedeutung). Das zeigt sich bspw. besonders anrührend, wenn Nightingale und Jonathan nachts vor ihrer Zimmertür stehen und gerne die Nacht zusammen verbringen würden, sich aber mit schmerzlichem „So etwas tut man nicht so einfach...“ dann doch trennen. Ein weiterer sehr schön umgesetzter Aspekt der damaligen Zeit ist der Glaube an die Kraft der Literatur, die alle der Literaten vereint Und auch die Bedrohungslage der Literaten fühlt der Leser mit. Und wenn dann noch geschickt mit Elementen der Gothic Novel gearbeitet wird (das Spukhaus Dull Manor und seine Geschichte), hat man schließlich ein hinreißendes Gemisch, das den Leser völlig gefangen nimmt (daß ich den über sechshundertseitigen Roman, obwohl ich ihn erst vor einem Jahr zuletzt gelesen hatte, innerhalb von einem Tag beendete, sagt wohl alles).

Bleiben noch die Figuren, die sich in der Handlung bewegen. Der Leser dieser Kritik wird es schon teilweise geahnt haben, natürlich finden sich hier einige Stereotypen wieder, die der Leser in einer solchen Handlung erwarten würde (die reizende junge Dame, der analytische Denker, der mysteriöse Butler usw.). Diese Figuren werden aber so geschickt variiert, daß sie zu keiner Zeit klischeehaft oder gar lächerlich wirken, wie es gerade im Krimigenre ja immer wieder vorkommt. Vielmehr vermeint man zu jeder Zeit, echte Menschen vor sich zu haben, deren Motive stets nachvollziehbar sind (selbst das des Mörders). Insbesondere sind es aber die Gefühle der Figuren, die ausgezeichnet und mitreißend dargestellt werden. Eine derart berührende und völlig kitschfreie Darstellung einer Liebesbeziehung und deren Höhen und Tiefen finden sich selten in einem Buch. Und jede der Figuren offenbart tiefere Seiten, niemand ist hier eindimensional oder platt. Der Leser fiebert mit den Personen mit, leidet, als zu befürchten steht, Nightingale habe sich von Jonathan abgewandt und gerät selbst in Panik als es um deren Rettung vor dem Mordanschlag geht (eine solch rasant geschriebene Passage, die nicht in Hektik oder sinnlose Action verfällt, ist mir selten begegnet). Selbst die Verzweiflung und das Leid des Mörders, die wir am Schluß erleben, ist begreifbar und stimmt eher traurig als wütend oder rachsüchtig.

Abschließend noch kurz ein Satz zur Ausstattung. Neben dem ausgezeichneten Lektorat und der überaus treffenden Umschlaggestaltung ist das Buch noch mit einigen kleinen Skizzen versehen, die dem Leser verdeutlichen sollen, wie das Schloß aussieht, sowie in bestimmten Fällen die Sitzordnung ist. Diese Bilder sind überaus hilfreich und runden das Buch ab.


Fazit:
Das Buch sollte nach Aussage der Autorinnen selbst, einen Roman aus der Periode der Romantik darstellen. Das ist absolut famos gelungen, eine zauberhafte Atmosphäre, liebenswerte und lebensechte Figuren, um die der Leser bangt, eine spannende Handlung und wunderbare Sprache. Dieser Roman ist nicht nur ein schlicht perfekter historischer Krimi, von dessen Qualität sich viele andere Bücher eine große Scheibe abschneiden könnten, sondern schlicht und ergreifend hohe Literatur. Wie sagt der Comte de Marais zu Beginn des Treffens: „Aus jedem guten Buch lerne ich etwas über sie [die Menschen]“. Und aus diesem Buch lernt man sehr viel über die Natur der Menschen...

10/10
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Bulletrider
ist hier der König...
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Beitrag von Bulletrider »

Wow - klingt absolut lesenswert. Kommt auf den Einkaufszettel! 1000 Dank! :D
Minrod
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Beitrag von Minrod »

Manoman, du verschlingst Bücher wie ich Butterbrote ;-)
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